Absolute Makellosigkeit - Ticket zu Erfolg oder Unglück?

Sie haben hohe Erwartungen an sich? Der Wunsch, ständig optimale Leistungen zu erbringen, begleitet Sie in allen Lebenslagen? Sie haben den Anspruch, sämtliche Fehlerquellen bereits im Vorfeld zu eliminieren? Nur 100 Prozent Einsatz ist gerade gut genug für Sie? Und selbst dann sind Sie selten zufrieden mit sich und Ihrer Leistung, immer wieder fallen Ihnen Verbesserungen ein? Sollten diese Punkte nahezu vollständig auf Sie zutreffen, könnten Sie in einer Perfektionismus-Falle sitzen.

Perfektionsstreben ist sehr oft Teil unseres persönlichen Erfolgsrezepts, weshalb es nicht nur negativ zu bewerten ist. Der Wunsch nach Selbstverbesserung sorgt für Weiterentwicklung und dient auch als Motivator, wichtige Ziele zu erreichen. Wird der Wunsch sich zu optimieren jedoch so stark, dass die eigenen Ansprüche kaum mehr erreichbar sind, kann dies zu ernstzunehmenden psychischen Problemen führen. 

Die Ausrichtung nach Idealen bzw. „Soll-Werten“ dient als Kompass für unser Leben. Wenn allerdings die Diskrepanz zwischen dem „Ist-“ und dem „Soll-Zustand“ nicht oder nur schwer zu ertragen ist, wird aus dem Soll ein Muss und ein ängstliches Fehlervermeidungsverhalten beginnt, Gedanken und Handlungen zu prägen.

„Perfektionisten stehen unter der Tyrannei des Müssens“, schrieb die Psychoanalytikerin Karen Horney. Wenn sie den eigenen, meist überhöhten Ansprüchen nicht genügen, wird die Stimme ihres inneren Richters laut und die Urteile, die er fällt, sind oftmals niederschmetternd. Aus Sicht des inneren Richters gibt es nur „perfekt“ oder „schlecht“. Fehler sind keinesfalls erlaubt und selbstkritische Stimmen, die davon ausgehen, dass andere bessere Leistungen erbringen, bewerten uns gefühlt schonungslos.

Diese und ähnliche Glaubenssätze sorgen dafür, dass das Selbstwertgefühl stark vom hundertprozentigen Gelingen eines Vorhabens abhängt – auch wenn dies vielleicht gar nicht nur von uns selbst beeinflussbar ist. Es liegt in der Natur der Sache, dass Selbstoptimierende dazu tendieren, Unmögliches von sich zu verlangen. Horney stellte schon 1950 fest, dass Perfektionist:innen vordergründig um die „Beherrschung des Lebens“ kämpfen. Es liegt auf der Hand, dass die Erfolgschancen dafür relativ gering sind und das Selbstwertgefühl durch die vorprogrammierten Misserfolge leidet, weil niemand diesem Anspruch gerecht werden kann.

Laut Forschern der New York University und der University of British Columbia ist Perfektionismus in unserer westlichen Welt endemisch. Er liegt gewissermaßen unseren Wertvorstellungen zugrunde. Nicht nur, dass es sich um ein gesellschaftlich akzeptiertes Laster handelt - es gehört inzwischen sogar zum guten Ton, sich zu optimieren und Höchstleistungen zu erbringen. Befeuert wird diese Entwicklung nicht zuletzt durch unsere Sozialisation und durch die sozialen Medien. Studien belegen, dass durch die Nutzung von Facebook und Co., aufgrund der Fülle an Posts, die nur die Schokoladenseite der Menschen zeigen, das eigene Leben abgewertet und dadurch das Selbstwertgefühl geschwächt wird. Gleichzeitig wird suggeriert, dass man sich nur noch ein bisschen mehr anstrengen müsse, um das perfekte Leben zu erreichen. Lassen wir uns auf die Jagd nach der Makellosigkeit ein, lösen wir damit möglicherweise die Eintrittskarte ins Reich der Unzufriedenheit und des Unglücks ein.

Was schützt uns vor der Perfektionismus-Falle und wie entkommen wir ihr, wenn wir schon hineingetappt sind?

Schritt 1 ist die Bewusstseinsbildung: Zu erkennen, woher der innere Richter kommt und was ihn stärkt, hilft uns, ihm seine unwillkürliche Wirkkraft zu nehmen.

Machen Sie sich Selbstgespräche und Denkmuster bewusst. Wenn darin oft „Ich muss…“, „Ich darf nicht…“, „Ich sollte…“ vorkommen, dann steckt möglicherweise Ihre innere richterliche Instanz dahinter. Ebenso verhält es sich in Situationen, in denen Sie in gedanklichen Vergleichen mit anderen schlechter abschneiden (z.B.: „Der kann das viel besser als ich.“ „Die ist viel attraktiver als ich.“)

Achten Sie außerdem auf körperliche Symptome wie beispielsweise Rücken-, Magen- oder Kopfschmerzen und reflektieren Sie, ob diese in Verbindung mit Ihren inneren Antreibern stehen könnten. Auch häufig wiederkehrende Scham- und Schuldgefühle könnten Hinweise auf eine Übermacht des inneren Richters sein.
Im nächsten Schritt hinterfragen Sie die Verurteilungen des Richters. Etwas nicht vollständig erledigt zu haben, ist eine Sache. Die Bewertung, deshalb gänzlich versagt zu haben, eine ganz andere und deshalb nicht verhältnismäßig.

Außerdem haben Sie die Möglichkeit, sich vom Richter zu distanzieren, indem sie sich bewusst machen, dass er nicht mehr als eine Stimme ist, die zu Ihnen spricht. Und wenn er mit seinen Bewertungen und Schuldzuweisungen zu vehement wird, können Sie ihm mit Sätzen wie „Es reicht! Du hast kein Recht, so mit mir zu sprechen!“ Grenzen setzen. Auch Humor kann eine äußerst effiziente Waffe im Kampf gegen den Richter sein. Sich über ihn lustig zu machen, relativiert nicht nur seine Machtposition, sondern hilft auch, die gesamte Situation mit Humor zu sehen. 

Liebe Leser:innen, sollten Sie sich in diesem Text wiedergefunden haben, machen wir uns gerne mit Ihnen gemeinsam auf die Suche nach Ihrem inneren Richter, um einen für Sie perfekten Weg damit zu finden. ;-)
Ihr ´mcb Team <<Feedback<<

Quellen: 
Bonelli, R.M. (2014), Perfektionismus. Wenn das Soll zum Muss wird. Pattloch-Verlag 
Spitzer, N. (2016), Perfektionismus und seine vielfältigen psychischen Folgen. Ein Leitfaden für Psychotherapie und Beratung. Springer Verlag
Psychologie Heute - Muss ich perfekt sein? Warum es gut ist, wenn Sie nicht alles richtig machen. Nr. 40 /2015

Aktueller Newsletter