Vom Geben und Nehmen

Wir leben in herausfordernden Zeiten. Die COVID19-Pandemie hat manche Belastungen, die vorher schon da waren, verstärkt. Viele Menschen erleben in ihrem Alltag, dass sie sich ständig auf Neues einstellen müssen. Schlagworte, wie Flexibilität oder Zusammenhelfen sind in diesem Zusammenhang oft zu hören. „Es leuchtet ja auch ein: Vieles wird leichter, wenn man Unterstützung hat. Doch wie leicht oder schwer fällt es eigentlich, Hilfe anzunehmen oder gar um Hilfe zu bitten?

„Das geht schon“, ist einer der Sätze, die wir in Beratungsgesprächen recht oft hören – auch dann, wenn vieles darauf hindeutet, dass es eigentlich bald nicht mehr geht. Wenn die Arbeitsbelastung hoch ist, wenn die Organisation des Alltags kaum mehr zu bewältigen ist, wenn die Liste der nicht erledigten Dinge immer länger wird – dann kann es höchste Zeit sein, sich Hilfe zu suchen: Andere Eltern bitten, das Kind vom Kindergarten mitzunehmen und zwei Stunden zu betreuen; die Arbeitskollegin fragen, ob sie Kapazitäten frei hat, etwas zu übernehmen; den guten Freund bitten, das Auto zum Service zu bringen. Das Motto „Ich schaff das schon“ hat die Kraft, all diese kleinen, hilfreichen Dinge zu verhindern. 

„Mancher ertrinkt lieber, als dass er um Hilfe ruft.“ Dieses Zitat von Wilhelm Busch hat es in sich. Der amerikanische Psychotherapeut John Amodeo schreibt über „tiefsitzende Blockaden beim Nehmen und Empfangen“, die Menschen daran hindern, Hilfe anzunehmen. Da der Preis für diesen Verzicht mitunter hoch ist, ist es wichtig, sich damit näher zu beschäftigen. 

Interessanterweise gibt es zahlreiche Studien, die belegen, dass Menschen ein großes Bedürfnis haben, anderen zu helfen. So wurde zum Beispiel nachgewiesen, dass freiwilliges Engagement vielfältige positive Effekte auf die Gesundheit hat. Es tut gut, in der Rolle der/des Gebenden zu sein – es hilft, ein positives Selbstbild zu entwickeln und ist mit dem angenehmen Gefühl verbunden, die Kontrolle zu haben und sich nicht verletzlich zeigen zu müssen. 

Wer hingegen einräumt, Hilfe oder Unterstützung zu brauchen, öffnet sich bis zu einem gewissen Grad für die gebende Person. Das Annehmen von Hilfe führt somit zu einem Gefühl von Nähe. Und das Zulassen von Nähe birgt bekanntlich auch das eine oder andere Risiko. Man könnte diese Nähe wieder verlieren oder gar von der anderen Person irgendwann zurückgewiesen werden. Hinter der Überzeugung, keine Hilfe zu brauchen, können auch ganz konkrete Erfahrungen stehen: Vielleicht wurde jemand in einer früheren Lebensphase in schwierigen Situationen allein gelassen. Vielleicht wurden Wünsche oder Bedürfnisse lächerlich gemacht. All das kann zu Abwehrstrategien führen. Wer diese allzu konsequent anwendet, bringt sich aber auch um die Gelegenheit, Verbundenheit und Nähe zu erfahren. 

Muss man sich Hilfe eigentlich verdienen? Ob jemand Hilfe annehmen kann oder nicht, hat unter anderem auch mit dem Selbstwertgefühl zu tun. Nur wer sich selbst grundsätzlich in Ordnung findet, kann auch das Gefühl haben, Freundlichkeit, Fürsorge und Unterstützung verdient zu haben – und zwar nicht aufgrund irgendeiner besonderen Leistung, sondern einfach als Mensch unter Menschen. Damit eng verbunden ist noch ein weiterer heikler Punkt: Wer Zuwendung, Komplimente oder konkrete Unterstützung von einer anderen Person erhält, fragt sich mitunter, welche Gegenleistung dafür erwartet wird. „Was will sie/er von mir?“ Dass diese Haltung, wie alle anderen Abwehrmuster, nicht gerade zu einem entspannten und großzügigen Miteinander beiträgt, ist naheliegend. 

Das Ablehnen von Hilfe setzt eine Wechselwirkung in Gang: Wer keine Unterstützung sucht, bringt die Hilfsbereitschaft bei anderen zum Versiegen. Das ist bedauerlich für alle Beteiligten, da es – wie oben erwähnt – sehr wohltuend ist, etwas für andere zu tun. Wenn wir dieses Gefühl aber nur selbst erleben wollen und nicht auch anderen gönnen, kann sich kein Gleichgewicht in den sozialen Beziehungen einstellen. Bedürfnisse bleiben dann unerfüllt, Geben und Nehmen werden gleichermaßen blockiert.

„Wir müssen das Leben nicht allein bewältigen. Wir waren nie dazu bestimmt“, sagt die Sozialpsychologin Brené Brown. So weit, so einleuchtend. Doch wie kann es gelingen, dass wir mit uns selbst und mit anderen großzügig umgehen? „Wir müssen Stärke neu definieren“, sagt der Psychotherapeut John Amodeo und rät dazu, sich verletzlich und offen zu zeigen, statt rigide und abgegrenzt. Doch das will geübt und vorsichtig ausprobiert werden. Kleine Schritte sind dafür empfehlenswert. Wie wäre es, einfach mal zu sagen: „Oh, wie nett von dir, ja gerne!“, anstatt des reflexartigen „Danke, nicht nötig“? Man kann auch bewusst jemanden um einen kleinen Gefallen bitten – und sich dabei vergegenwärtigen, dass sich das Gegenüber sehr wahrscheinlich sogar darüber freut. (Dass man damit die Chancen steigert, auch selbst wieder einmal um Hilfe gefragt zu werden, kann vielleicht zusätzlich motivieren.)

Übrigens ist ein guter erster Schritt zum Annehmen von Hilfe auch das Aufsuchen einer Stelle, die professionell Unterstützung anbietet und daher ganz sicher keine Gegenleistung erwartet. Wir Beraterinnen und Berater im ‘mcb begleiten Sie gern dabei, den eigenen Mustern auf die Spur zu kommen. <<Feedback<<

Ihr ´mcb Team


Literatur:
Schönberger, Birgit (2021): Ich schaff das schon. Psychologie heute 10/2021
Amodeo, John (2014): 5 Reasons Why Recieving Is Harder Than Giving: bit.ly/PH_Amodeo
https://www.psychologytoday.com/us/blog/intimacy-path-toward-spirituality/201402/5-reasons-why-receiving-is-harder-giving
Siegert, Almut (2021): Hilfe annehmen: Wieso fällt uns das so schwer? https://www.emotion.de/psychologie-partnerschaft/persoenlichkeit/hilfe-annehmen

 

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